Wenn Medizin und Pflege vor allem dem einzelnen Menschen und der gesamten Gesellschaft dienen, dann kann ein Gesundheitswesen entstehen, das uns vor vielen Krankheiten schützen kann.
Der folgende Artikel stammt von Dr. Ellis Huber und ist im Original unter https://www.purpose-magazin.de/medizin-und-soziale-verantwortung/ zu finden.
Die Begründer der modernen Medizin hatten die Gesellschaft ebenso im Blick wie die Mikroben und Krankheitserreger. Rudolf Virchow und Robert Koch sind dafür herausragende Zeugen. Virchow war Pathologe, liberaler Politiker, Anthropologe, Ethnologe, Sozialhygieniker und Medizinhistoriker. Die Flecktyphus-Epidemie in Oberschlesien begutachtete er als politisches Versagen der preußischen Regierung, die verantwortlich für die Leiden der hungernden und armen Bevölkerung sei und empfahl die Versorgung der Bevölkerung mit Arznei- und Lebensmitteln.
Als Konsequenz der Seuche forderte der Arzt „volle und unumschränkte Demokratie“ sowie „vor allem Bildung mit ihren Töchtern Freiheit und Wohlstand“. Seine Konzepte einer ärztlich begründeten Sozialhygiene von 1848 sind identisch mit den heutigen Forderungen der Public Health Wissenschaften zu Armut und Gesundheit oder der Ottawa Charta zur Gesundheitsförderung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 1986.
DER ARZT ALS POLITIKER
Rudolf Virchow engagierte sich über 40 Jahre als Berliner Stadtverordneter. Er modernisierte die Trinkwasserversorgung und setzte die Kanalisation der Abwässer durch. Die Hygiene der Markthallen und der Schlachthöfe war sein Thema, die gesetzliche Fleischbeschau sein Werk. Er begründete kommunale Krankenhäuser und Museen und kümmerte sich auch um Schulsport und Kinderspielplätze.
Als Gründungsmitglied und Vorsitzender der „Deutschen Fortschrittspartei“ saß er ebenfalls 40 Jahre im Preußischen Abgeordnetenhaus, stellte Anträge auf Beschränkung der Militärausgaben und für eine allgemeine Abrüstung, forderte internationale Schiedsgerichte und die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa.
VORBILD VIRCHOW
Eindrucksvoll plädierte der politische Arzt für eine liberale, weltoffene Gesellschaft und eine soziale Medizin: „Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist nichts weiter als Medizin im Großen.“ Als gewähltes Mitglied des Deutschen Reichstags kämpfte Virchow für den Aufbau einer staatlich organisierten medizinischen Grundversorgung.
Er setzte sich für die kommunale Selbstverwaltung und für Minderheitenrechte ein, bekämpfte entschieden die aufkommenden antisemitischen Tendenzen. Die Kolonialpolitik hielt er für falsch. Der Kieler Medizinhistoriker und weltweit führende Virchow-Forscher Christian Andree beschreibt das „Leben und Ethos eines großen Arztes“ auf einzigartige und anrührende Weise. Den heutigen Medizinern stellt er Rudolf Virchow als ein „Vorbild“ dar.
DIE LEHREN AUS DER EPIDEMIE
„Wir betrachten die Krankheit nicht als etwas Persönliches und Besonderes, sondern nur als die Äußerung des Lebens unter veränderten Bedingungen. (…) Jede Volkskrankheit, mag sie geistig oder körperlich sein, zeigt uns daher das Volksleben unter abnormen Bedingungen, und es handelt sich für uns nur darum, diese Abnormität zu erkennen und den Staatsmännern zur Beseitigung anzuzeigen“, so Virchow.
Die allgemeinen, die natürlichen und die gesellschaftlichen Verhältnisse seien zu beachten, welche der Gesundheit hemmend entgegentreten und Ärzte müssten, das lässt aufhorchen, diejenigen Verhältnisse verändern, die das einzelne Individuum daran hindern, für seine Gesundheit selbst einzutreten. Für Virchow waren Verhältnisprävention und Gesundheitskompetenz-Bildung die zentralen medizinischen Aufgaben und die Lehre aus den Epidemien des 19. Jahrhunderts.
HELDEN DES GEMEINWOHLS
Robert Koch, Kollege von Rudolf Virchow an der Charité und Namensgeber des Robert-Koch-Instituts (RKI), sagte bei seinem Nobelpreis Vortrag zum Beziehungsverhältnis von Krankheitserreger und Menschen: „Das Bakterium ist nichts, der Wirt ist Alles.“ Der Arzt und Infektiologe Louis Pasteur war der gleichen Meinung: „Das Bakterium ist nichts, das Milieu ist alles.“
Der Sozial- und Umweltmediziner Max von Pettenkofer trank im Jahr 1892 öffentlich eine Flüssigkeit voller Cholerabazillen und blieb gesund. Er wollte zeigen, dass die Lebenswelt der Menschen für die Cholerakrankheit entscheidend sei. Und tatsächlich: Die Infektionskrankheiten wurden nicht durch die Segnungen der Medizin, sondern durch die gesellschaftliche Entwicklung gesunder Lebensverhältnisse besiegt.
Pasteur, Virchow, Pettenkofer und Koch, die Helden der naturwissenschaftlichen Medizin, sorgten mit politischer und medizinischer Courage für „saubere Städte“ und gesündere Lebensräume und damit für ein neues Gleichgewicht zwischen Bakterien, Menschen und ihrem Gemeinwesen.
KONTAKTREICHE BEZIEHUNGSLOSIGKEIT
„Das Virus ist nichts, der Mensch und seine Lebenswelt sind alles“, gilt es jetzt zu beherzigen. Das RKI, das jetzt in der Corona Pandemie die Meinungsbildung prägt, steht in dieser Tradition.
Wir können Glück haben und aus der Corona Krise mit einem Neuen Bewusstsein und einer neuen Beziehungskultur herauskommen. Das Virus spiegelt die Gefahren einer „kontaktreichen Beziehungslosigkeit“ und einer rivalisierenden wie konkurrierenden Konsumwelt von selbstbezogenen und rücksichtslosen Individuen, die das Geld zu ihrem einzigen Maßstab und Wert erhoben haben.
Corona ist ein Menetekel, eine unheilverkündende Warnung vor einem falschen Weg in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Psychosozialer Stress, Ängste, Einsamkeit oder Ausgrenzung schwächen das individuelle und erst recht auch das soziale Immunsystem. Eine der Gemeinwohlökonomie zugeordnete Gesundheitswirtschaft befreit sich von der Verzweckung des Geldes und wird zur Quelle für gesellschaftliches Wachstum und gemeinschaftliches Wohlbefinden.
Ein entsprechend gestaltetes Gesundheitswesen würde als gesellschaftliches Yin oder altruistische Kraft wirksam. Das kann die Wunden heilen, die das Yang oder der Egoismus einer kapitalistischen Wirtschaft schlägt. Ein Ausgleich der Gegensätze ohne Schwarz-Weiß-Denken und dogmatische Glaubenskriege fördert die Gesundheit und zeigt neue Perspektiven auf.
DAS GESUNDHEITSWESEN ALS SOZIALES IMMUNSYSTEM
„In seiner berühmten Zellularpathologie zeichnet Virchow ein Bild des menschlichen Organismus als Idealstaat, in dem die einzelnen Bürger als freie und autonome Individuen existieren. Als Anhänger eines gemäßigten Liberalismus bemühte er sich, die Selbstbestimmung des Einzelnen mit dessen Abhängigkeit von anderen Teilen des Gesellschaftsgefüges in Einklang zu bringen. (…)
In den zeitgleich geführten politischen Diskursen sprach man häufig vom sogenannten Staatsorganismus. Die Körper-Staat-Metapher, wie sie Virchow in umgekehrter Richtung verwendet, belebte die Analogiebildung zwischen Organismus und Gesellschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert zusätzlich und gab dem interdisziplinären Austausch zwischen Biologie und Gesellschaftswissenschaften Raum“, sagt Kathrin Sander in ihrem 2012 erschienenen Werk „Organismus als Zellenstaat.“
POLITISCHE MEDIZIN
So wie die einzelne Zelle als ein autonomes Individuum für den gesamten Organismus tätig sei, müsse auch der einzelne Bürger in seinem Verhältnis zum Gemeinwesen gesehen werden. Virchow kämpfte für eine politische Medizin, die individuelle Krankheiten mit dem Bildungsangebot, den Wohnverhältnissen oder dem Grad der Selbstständigkeit in Zusammenhang brachte. Seine sozialmedizinischen Analysen begründeten seine Forderung nach mehr Demokratie und einer nachhaltigen Verbesserung der Lebensbedingungen.
EINE GESUNDHEITSFÖRDERNDE KULTUR
Virchows explizite Analogie von Körperzellen und Staatsbürgern war nicht nur metaphorisch, sondern direkt politisch gemeint. Die Grundeinheiten des Lebendigen, die Zellen, organisieren sich zu sozialen Zellgefügen. Sie bilden als wohlorganisierter Zellenstaat einfache und höher strukturierte Gewebe wie Muskel, Nerven und Blutsysteme aus. Bei Gesundheit herrscht im Körper ein „demokratisches“ Gleichgewicht, das durch krankhafte Veränderungen der Zellgebilde gestört werden kann.
Medizin und Politik, individuelle und gesellschaftliche Gesundheit werden in Virchows Gesamtwerk miteinander verbunden und beides hat zum Ziel, pathologische Entwicklungen von der Zelle bis zum sozialen Gewebe zu erkennen und deren Fortschreiten zu verhindern, also eine gesundheitsförderliche Kultur zu entfalten.
PSYCHONEUROIMMUNOLOGIE
Die eindeutigen Erkenntnisse der heutigen Wissenschaften bestätigen Rudolf Virchow: Körper, Geist und Seele oder Individuum und Gemeinde bilden einen vernetzten Organismus. Psyche und Gehirn, Nerven-, Hormon- und Immunsystem wirken zusammen. Soziales Umfeld und die Lebenswelten des einzelnen Menschen, alles ist mit allem verbunden und beeinflusst wechselseitig individuelles wie soziales Befinden.
Diese komplexen Zusammenhänge durchleuchtet die Psychoneuroimmunologie (PNI). Die Stressforschung, Resilienz-Untersuchungen, psychosoziale Erfahrungen oder die psychosomatische Medizin belegen dies ebenso:
Menschen sind keine Maschinen, sondern Lebewesen, und soziale Systeme sind keine Räderwerke, sondern lebendige Netzwerke.
DIE INTEGRIERTE MEDIZIN
Der Nestor der psychosomatischen Medizin, Thure von Uexküll, setzte die integrierte Medizin gegen eine „Heilkunst für Körper ohne Seelen und für Seelen ohne Körper“: „Jedes lebende System besteht aus Subsystemen und ist in Systeme höherer Ordnung eingebunden. Um sich ein lebensförderliches Umfeld zu schaffen, ist das Zusammenkommen von Organismus und Umwelt notwendig. Dieses ‚In-Passung-Kommen‘ geschieht von der zellulären bis hin zur gesellschaftlichen Ebene. Misslingt dies, resultiert eine Störung beziehungsweise Erkrankung“ (www.aerzteblatt.de).
PFLEGE UND MEDIZIN DER ZUKUNFT
Künftige Medizin und Pflege betreuen den Menschen mit seinen körperlichen, seelischen und sozialen Bezügen. Sie nehmen Abschied vom Maschinenbild des Lebens und vom Reparaturdenken für defekte Zellen und Organe. Die Vorstellung von Körper-Maschinen und Gesundheitsfabriken entspricht nicht nur einer veralteten Organisationslogik, sondern auch einer Naturwissenschaft der Vergangenheit.
Zukünftige Heilkunst und Pflege denken und handeln in vernetzten Systemen. Sie sehen genetische Vorgaben, die Biographie von Personen und die soziale Kultur miteinander verwoben. Gesundheit wird so zum Maßstab für eine gesellschaftliche Entwicklung, die den Zusammenhalt und die Mitmenschlichkeit fördert und Inklusion statt Ausgrenzung organisiert. Wenn Medizin und Pflege dabei auf die heilende Kraft des Vertrauens setzen, werden wir ein Gesundheitswesen verwirklichen, das dem einzelnen Menschen und der gesamten Gesellschaft wirklich dient.
Der Artikel stammt von Dr. Ellis Huber und ist im Original unter https://www.purpose-magazin.de/medizin-und-soziale-verantwortung/ zu finden.